Ist eine Beziehungsstörung dasselbe wie eine Bindungsstörung?
Ja und Nein. Da eine Beziehung auf das Bindungsverhalten eines Menschen aufbaut, ist es sehr wahrscheinlich, dass auf eine Bindungsstörung eine Beziehungsstörung folgt. Denn im Prinzip ist eine Bindungsstörung genau das: eine gestörte Beziehung zur Umwelt, vor allem zu den primären Bezugspersonen.
Allerdings gibt es klare Kriterien für eine Bindungsstörung, während man bei einer Beziehungsstörung verallgemeinernd sagen könnte, dass es sich um destruktives Beziehungsverhalten handelt, das einen Leidensdruck bei allen Beteiligten erzeugt.
Inhaltsverzeichnis
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Bindungsstörungen
Reaktive Bindungsstörung (F94.1)
Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2)
Beziehungsstörungen
FAQs Bindungsstörung

Bindungsstörungen
Wenn wir von Bindungs-STÖRUNGEN sprechen, dann handelt es sich um Phänomene mit pathologischem Charakter – also einem Krankheitsbild. Bindungsstörungen gehören demnach zu einer vielseitigen Gruppe von sozialen Funktionsstörungen. Diese Störungen können sich zum Beispiel dadurch zeigen, dass Kinder sich überaus aufmüpfig, delinquent (straffällig), aggressiv oder dissozial (asozial) aufführen. Dieses Verhalten muss allerdings sehr auffällig sein, sich über eine längere Dauer ereignen und einen gewissen Leidensdruck bei allen Beteiligten auslösen, um wirklich von einer Störung sprechen zu können.
Die Gründe für eine solche Bindungsstörung können von extremer Vernachlässigung des Kindes bis zum wiederholten und ständigen Wechsel der Bezugspersonen ganz unterschiedlich sein. Meistens liegt es jedoch daran, dass ein Kind unzulänglich (emotional) versorgt wurde, durch die primären Care-Personen.
Es gibt zwar keine Diagnose, die Bindungsstörung lautet, wir teilen jedoch laut ICD-10* in zwei unterschiedliche Bindungsstörungen ein.
*Der ICD-10 ist ein Klassifizierungsmodell, das Krankheiten beschreibt und in die jeweiligen Gruppen und Untergruppen einteilt. So ist es einfacher nachzuvollziehen, woher Diagnosen kommen und wie man sie behandeln könnte. Ein Lexikon über Krankheitsbilder sozusagen.
Reaktive Bindungsstörung (F94.1)
Die reaktive Bindungsstörung zeichnet sich durch ein gestörtes Bindungsverhalten zu den Bezugspersonen aus. Wir sprechen hier von der „gehemmten“ Form der Bindungsstörung. Folgende Kriterien sind laut dem ICD-10 ausschlaggebend, dass eine solche Bindungsstörung vorliegt.
Störungen der sozialen Funktionen:
– Abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung
[die Kinder lehnen die Bezugspersonen ab und suchen dennoch ihre Nähe]
– Widerstand gegen Zuspruch [die Ablehnung der Beziehung kann dazu führen, dass diese Kinder negativ auffallen und „nicht gefallen wollen“]
– Eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen [gehen nicht wirklich in Kontakt mit Gleichaltrigen]
– Beeinträchtigung des sozialen Spielens
– Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen
Emotionale Auffälligkeiten
– Furchtsamkeit
– Übervorsichtigkeit
– Unglücklichsein
– Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit
– Verlust/Mangel an emotionalen Reaktionen
– Apathie (Abwesenheit von Emotionen, fehlendes Einfühlvermögen)
– “frozen watchfulness” [aufmerksame Beobachtung der Umgebung ohne auf diese zu reagieren]
Prinzipiell können Kinder dieses Typs als zurückhaltend, schüchtern, ängstlich und passiv beschrieben werden. Sie bekommen zwar alles ganz genau mit, was um sie herum geschieht, reagieren aber nicht darauf. Sie zeigen keine Gefühlsregungen als Resonanz auf ihre Umwelt.
Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2)
Bei der enthemmten Form der Beziehungsstörung geht es – wie der Name schon sagt – um ein „enthemmtes“ Verhalten. Kinder dieses Typus stellen sehr schnell Kontakt zu vermeintlichen Bezugspersonen her und es fehlt ihnen an angemessener Zurückhaltung. In Trostsituationen wenden sich diese Kinder gleichermaßen an bekannte und unbekannte Personen, um sich Nähe und Fürsorge zu holen. Aggressionen gegen sich selbst und gegen andere können ebenfalls Begleiterscheinungen dieser Bindungsstörung sein. Der ICD-10 formuliert so:
– Störungen der sozialen Funktionen:
– Inadäquate Reaktionen auf Beziehungsangebote von fremden Bezugspersonen [unpassendes Verhalten gegenüber Fremden]
– Nicht selektives Bindungsverhalten mit wahlloser Freundlichkeit und Distanzlosigkeit [können die Grenzen des Gegenübers nicht wahrnehmen]
– Gleichförmige Interaktionsmuster gegenüber Fremden [reagieren auf fremde Personen wie auf Bezugspersonen]
– Eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen [gehen nicht wirklich in Kontakt mit Gleichaltrigen]
– Beeinträchtigung des sozialen Spielens
– Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen
Emotionale Auffälligkeiten stehen nicht im Vordergrund, kommen aber vor.

Beziehungsstörungen
Eine Erklärung zum Begriff der Beziehungsstörungen liefert uns der Psychiater Darrel Regier: „anhaltende und schmerzhafte Muster von Gefühlen, Verhaltensweisen und Wahrnehmungen“ zwischen zwei oder mehreren Personen in einer wichtigen persönlichen Beziehung, etwa zwischen [Partner:innen] oder zwischen Eltern und Kindern.
Beziehungsstörungen sind keine offizielle Diagnose und wir können demnach nur mit Hypothesen jonglieren, inwieweit Bindungsstörungen und Beziehungsstören Einfluss aufeinander ausüben. Es liegt jedoch sehr nahe, dass Kinder, die eine Bindungsstörung haben, auch in späteren Beziehungen Schwierigkeiten haben werden, gesunde zwischenmenschliche Interaktionen einzugehen.
Weitere, interessante Blogartikel
Input über destruktive Beziehungsformen könnt ihr im Folge-Artikel toxische Beziehungen nachlesen.
Auch die Artikel zum Thema Bindung können hier noch einmal Aufschluss geben.
FAQs: Bindungsstörung
Wie erkennt man eine Bindungsstörung?
Eine Bindungsstörung geht meistens auf eine unzulängliche (emotionalen) Versorgung des Kindes durch die primären Bezugspersonen zurück. Diese Kinder sind entweder „gehemmt“ oder „enthemmt“ in ihrem Sozialverhalten. Beide Typen können aber kaum altersadäquate Kontakte eingehen und sind in den sozialen Funktionen sehr auffällig. Das kann sich äußern, indem diese Kinder im Außen zu viel Nähe fordern –bei Fremden zum Beispiel– oder sich sehr passiv verhalten. Aggressionen sind häufige Begleiterscheinungen beider Störungsmodelle.
Wie äußern sich Bindungsstörungen?
Bindungsstörungen können sich unter anderem durch ein dissoziales, passives, aggressives, delinquentes oder aufmüpfiges Verhalten äußern.
Was ist eine Bindungsstörung bei Erwachsenen?
Eine Bindungsstörung bei Erwachsenen kann zu einer Beziehungsstörung führen oder sogar in einer Persönlichkeitsstörung gipfeln.
Können Bindungsstörungen geheilt werden?
Bindungsstörung können mit einer adäquaten Versorgung und einer gesunden „Nachbeelterung“ behandelt werden. In vielen Fällen kann eine Bindungsstörung so gut aufgelöst werden. Im besten Falle kann das Familiensystem unterstützt und stabilisiert werden und die Erziehungsberechtigten bekommen die nötige Hilfestellung, um in ihre Elternrolle wachsen zu können. In anderen Fällen wird vor allem das Kind durch die Schaffung einer sicheren Umgebung und eines liebevollen Umfelds stabilisiert und (emotionale) Defizite werden „nach genährt“. Eine Bindungsstörung kann auch im Erwachsenenalter noch behandelt werden. Vor allem, wenn ein Leidensdruck besteht, ist es ratsam sich professionelle Hilfe zu holen.
Literatur:
Grossmann, K.E./K.; (2015, 7. Auflage): Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart, Klett-Cotta
Schmitt, K.; (2023): Bindung und Bindungsstörungen. Heiligenfeld, Heiligenfeld Kliniken
ICD-10: https://klassifikationen.bfarm.de/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2025/index.htm [Stand 14.10.2024]